Piz Buin und Co...

Spannende Rundtouren-Tage in der Silvretta

Von Volker Götz

Der Gebirgskamm der Silvretta bildet die natürliche Grenze zwischen Österreich und der Schweiz. Dort befinden sich die westlichsten Dreitausender und gleichzeitig auch die letzten von Gletschern umgebenen Gipfel des Zentralalpenkammes. In den letzten Jahren waren Michael und ich in diversen Gebirgsgruppen der Alpen unterwegs, doch die Hochsilvretta mit dem bekannten Piz Buin hatten wir erst Ende Juli 2023 auf dem Programm. Das häufig in der Literatur als „Mustergebirge“ bezeichnete Gebiet ist schon sehr lange durch die Sektionen des DAV, ÖAV und SAC mit vielen Hütten erschlossen, leidet aber zunehmend unter den Rückgang der ehemals starken Vergletscherung und verliert damit wohl bald ihren Beinamen „Blaue Silvretta“. Es gibt sie aber noch, die interessanten Hochtouren in Eis und Fels und die aussichtsreichen Höhenwanderungen. Ein Besuch lohnt sich, entsprechende Erfahrung vorausgesetzt!

 

NASSKALT: BIELER HÖHE 2.026m – GETSCHNERSCHARTE 2.839m – JAMTALHÜTTE 2.165m

Am späten Dienstagabend besteige ich Michaels Auto in Neuss und schon zur Frühstückszeit genießen wir frische Nusskipferl in Kleinkirchheim in Vorarlberg. Nach vielen Kehren auf der Silvretta-Hochalpenstraße sind wir dann auch zeitig an der Bieler Höhe, unserem Startpunkt der geplanten Rundtour. Bei 2°C finden sich einige Schneeflocken im endlich nachlassenden Regen. Auf dem Weg zur Getscherscharte, über die wir zur Jamtalhütte gelangen möchten, steigt mit zunehmender Höhe auch die Schneeauflage unter unseren Füßen. Beim Abstieg von der Scharte legen wir unsere Steigeisen an und gelangen, weiter unten in strömenden Regen sicher zur stattlichen Jamtalhütte. Wetterbedingt finden sich dort nur wenige Bergsteiger. Hier erfahren wir auch mehr über den Bergsturz am Fluchthorn, dessen Felsmauer 4 km östlich der Hütte thront. Mitte Juni stürzten etwa eine Million Kubikmeter Material in kurzer Zeit zu Tal, eine Folge des Rückgangs des Permafrostes. Dadurch verlor der Südgipfel 20m der ehemaligen Höhe von 3.399m.

 

EINSAM: HINTERE JAMSPITZE 3.156m – OBERE OCHSCHEN SCHARTE 2.977m – TUOI HÜTTE 2.250m

Gestärkt durch ein Thermoskannen-Frühstück verlassen wir früh die Hütte und freuen uns über stabiles Bergwetter. Ein bedrückendes Gefühl ereilt uns beim Passieren der Berghänge auf dem Weg zum nahen Russkopf. Ende Dezember 1999 kamen dort bei einem Lawinenabgang 9 Skitourengeher ums Leben, nur 200m vor der Hütte entfernt. Trotz Lawinenstufe 4 waren damals Gruppen unter Leitung von Bergführen unterwegs. Vom Russkopf nehmen wir den Jamtalferner und die umliegenden Dreitausender in Augenschein. Ja, hier gibt es noch weite Gletscherflächen, doch wie lange noch bestimmt der Klimawandel. Bald legen wir unsere Spur in den frischen Schnee auf dem Eis, auf dem wohltuend sanften Weg zur Hinteren Jamspitze. Noch vor Jahren führte eine Firnfläche hinauf zum Gipfel, jetzt nur erreichbar über abschüssiges Felsgelände, doch mit unserer Erfahrung finden wir einen Zustieg. Beim Abstieg kommt uns eine Gruppe mit Bergführer entgegen, die einzigen Personen, die wir auf dieser Tour treffen. In weitem Bogen geht es hinüber zur oberen Ochsenscharte, vorbei an einem imposanten Gletschertisch und tiefen Spalten. Der Weiterweg über den einst weiten Vermuntgletscher führt uns am Fuße der Dreiländerspitze vorbei hinüber zum Vermuntpass. Mit deutlichen Höhenverlust und solidem Steigeiseneinsatz auf steilen Resteisflanken sowie gutem Orientierungsvermögen gelingt uns die Passage. Auch der vermeintlich leichte, aber steile Abstieg vom Pass hinunter zur Schweizer Tuoi Hütte fordert durch die instabilen Hänge erhöhten Krafteinsatz und Konzentration. Hier zeigen sich die ins obere Val Tuoi abbrechenden Ost- und Südwände der beiden Buine als wilde Felsenburg aus Granit und Gneis, gespickt mit Zacken und Zinnen.

ANSPRUCHSVOLL: PIZ BUIN 3.312m – EGGHORNLÜCKE 3.050m – SILVRETTAHÜTTE 2.341m

Gut erholt verlassen wir früh die gastliche SAC-Hütte, deren Hüttenwirt den neuen steilen Aufstieg auf der gegenüberliegenden Talseite hinauf zum Plan Rai aufwendig mit Holzpfosten markiert hat. Immer die dramatischen Südabstürze der beiden Buine im Blick gewinnen wir schnell an Höhe. Auch hier sind die Folgen des Permafrost-Rückganges spürbar. Durch einen drohenden Bergsturz am Kleinen Buin war lange unklar, ob die Hütte überhaupt geöffnet werden kann, da ein Felsabgang eine enorme Druckwelle auszulösen vermag. Über eine steile Firnrinne erreichen wir bald über eine Scharte den Ochsentaler Gletscher und queren hinüber zur Buinlücke. Mittlerweile ist die Neuschneeauflage am Gipfelhang des Großen Piz Buin so weit reduziert, dass auch der felsige Kamin hinauf zum Gipfel anspruchsvoll, aber sicher zu ersteigen ist. Nach vorsichtigem Abstieg wartet eine anstrengende und heiße Gletscherquerung hinüber zur nördlichen Egghornlücke auf uns. Die Mühe wird durch großartige Blicke auf die Buine und auf das Nährbecken des Ochsentaler Gletschers belohnt, wohlwissend, dass auch dieser Eispanzer stark zurückgeht. Den Gipfelwein genießen wir auf der Lücke und haben Glück, dass uns eine vorangehende Bergführergruppe den Abstieg hinunter zum Silvretta-Gletscher weist. Nur noch an wenigen Stellen ist das Verlassen des steilen Felsrückens hinunter auf den Gletscher möglich. Ein langer Weg führt uns über die noch große, mit vielen Schmelzwasserrinnen durchzogene Eisfläche. Der finale Abstieg über Wandergelände leitet uns zur Silvretta Hütte des SAC. Leckere Speisen, Getränke und Murmeltiere warten dort auf uns.

 

BÖCKE: WINTERLÜCKE 2.829m – SAARBRÜCKER HÜTTE 2.538m – TÜBINGER HÜTTE 2.191m

Im Morgenlicht bestaunen wir noch einmal die Eisfläche des Silvretta-Gletschers, bevor uns ein steiler Pfad hinauf zur Roten Furka leitet. Über Gletscherschliff und Randmoränen, vorbei an schönen Seeaugen, geht es im Auf und Ab hinüber zum Klosterpass. Hier im Reich der Steinböcke genießen wir die wärmenden Sonnenstrahlen und kommen den stolzen Tieren auch sehr nahe. Trittspuren und alte Markierungen weisen uns den ausgesetzten Weg hinüber zur Winterlücke, wiederum mit Steigeiseneinsatz, Höhenverlust und sehr mühsam gelangen wir in weitem Bogen über Gletscherreste und weite Schuttflächen zum Litznersattel. Nördlich entlang an der stolzen Felsgestalt des Großlitzner erreichen wir zur Mittagsrat die urgemütliche Saarbrücker Hütte. Gestärkt durch eine schmackhafte Käseknödelsuppe fällt uns der Weg hinauf zur Seelücke nicht schwer. Über uns thront das formvollendete Große Seehorn, der westlichste Dreitausender im Alpenhauptkamm. Natürlich mit Höhenverlust und Gegenanstieg geht es zum nächsten Logenplatz am Plattenjoch. Eine Regenfront, schnell über das Rätikon herannahend, mahnt zum schnellen Abstieg nach Norden. Beim Erreichen der Tübinger Hütte sind wir in dichte Wolken gehüllt und es beginnt stark zu regnen. Die Hütte ist im Gegensatz zu den Vortagen gut besucht, kann auch nicht mit nostalgischem Charme punkten, das junge Hüttenpaar bemüht sich aber engagiert um die Gäste.

 

GESPENSTISCH: HOCHMADERER 2.828m – BIELER HÖHE 2.036m

Dichte Wolken begrüßen uns am nächsten Morgen, Lücken mit blauen Flecken eröffnen zeitweise die Sicht auf die umliegenden Felsformationen und begrünten Berghänge, der hochalpine Charakter schwindet etwas. Diesen erlangen wir beim Aufstieg auf den Hochmaderer wieder, belohnt durch eine großartige Rückschau, auf die mit Regenwolken umsäumten, gespenstisch wirkenden Gipfel der Hochsilvretta. Da und dort verlieren auf dem Abstiegsweg hinunter in Kromertal die Wolken einige Tropfen, doch mit Glück erwandern wir fast trocken die grasige Passage hinüber zur Bielerhöhe. 77 Kilometer Wegstrecke und 5.700 Höhenmeter liegen auf dieser schönen Rundtour nun hinter uns. Das Auto gerade erreicht, verabschiedet sich die Silvretta mit Starkregen. Am späten Sonntagabend erreichen wir müde, aber zufrieden Düsseldorf.